Handlungskompetenz – ein Schlagwort?

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Unsere Wirtschaftswelt ist gekennzeichnet durch einen kontinuierlichen Wandel und damit verbunden durch rasche Veränderungsprozesse auf den verschiedensten Ebenen der Wirtschaftstätigkeit. Globalisierung im Sinne eines verstärkten internationalen Wettbewerbs, die Technisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt und die zunehmende berufliche Mobilität sind Beispiele für die veränderten Rahmenbedingungen. In einer europaweiten Diskussion wurde im Rahmen der Lissabon-Strategie die Zielsetzung formuliert, Europa zu einem dynamischen und wissensbasierten Wirtschaftsraum auszugestalten, um aktiv die eigene Position in der Wirtschaftswelt zu behalten bzw. auszubauen. Somit wird Bildung zu einem der wichtigsten Standortfaktoren und die Berufsbildung erhält eine Schlüsselrolle in der Verfolgung dieser Zielsetzung.

Versteht man die Berufsbildung als Mittel, um eine Verbesserung der individuellen Handlungsvoraussetzungen für eine erfolgreiche Bewältigung komplexer beruflicher Anforderungen zu erzielen, so ist sie gefordert, die entsprechenden Rahmenbedingungen bzw. Entwicklungstendenzen in ihren Konzepten systematisch abzubilden. Es stellt sich somit die Frage: Wie muss die Berufsbildung ausgestaltet werden, um diesem Sachverhalt gerecht zu werden und einen aktiven Beitrag zu dieser Zielerreichung leisten zu können?

Eine Antwort auf diese Frage findet man in der Einführung des Kompetenzbegriffes. Die Begriffe «Kompetenz» und «Berufliche Handlungskompetenz» haben Hochkonjunktur, ebenso die Diskussionen über deren Klassifikation (z. B. Erpenbeck & Heyse, 1999), Messung (z. B. Erpenbeck & Rosenstiel von, 2003) und Förderung (Frey, 2002). Das Interesse an der «Kompetenzorientierung» spiegelt sich in den bildungspolitischen Diskussionen, zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, unzähligen Erwähnungen in der Praktikerliteratur und den Anforderungsprofilen der Stellenausschreibungen wider. Die Relevanz, die der beruflichen Handlungskompetenz in der heutigen Berufsbildung beigemessen wird, lässt sich aus mindestens drei Perspektiven begründen.

Aus betrieblicher Sicht wird argumentiert, dass die beschleunigten Veränderungsprozesse der Arbeitswelt infolge neuer Technologien und des globalen Wettbewerbs zu einem quantitativen Anwachsen der Lernanforderungen und zu qualitativen Veränderungen geführt haben. Mitarbeiter müssen zunehmend in der Lage sein, sich an ständig wandelnde, undefinierte und oftmals neuartige Anforderungen durch selbstgesteuertes Lernen anzupassen, und sie müssen in der Lage sein, ohne ein langwieriges Einarbeiten und mühsames Kompensieren von Wissenslücken kompetent zu handeln – d. h. sie sollten die in der Arbeitswelt gestellten Anforderungen möglichst schnell kompetent bewältigen können. Wer sich an den eigenen Theorie-Praxis-Schock nach der Schule, der Ausbildung oder der Universität erinnert, weiss, dass hier die immer noch dominierenden faktenorientierten und theorielastigen Ausbildungen deutliche Defizite erzeugen.

Aus wissenschaftlicher Sicht gilt Handlungskompetenz als das Erfolgskriterium erfolgreichen Unterrichtens – sie ist damit gewissermassen das Gegenteil des viel beklagten «trägen Wissens» (Renkl, 1996). Unter «trägem Wissen» verstehen Fachleute das Phänomen, dass Lernende nach Aus- und Weiterbildungen zwar oftmals über viel Faktenwissen verfügen, dieses Wissen jedoch in komplexen, alltäglichen Anwendungssituationen nicht abrufen und anwenden können. Das Wissen liegt gewissermassen «träge herum», es entsteht eine Kluft zwischen Wissen und Handeln. Dies stellt letztlich den Sinn von Bildungsmassnahmen an sich in Frage. Die erfolgreiche Vermittlung von Handlungskompetenz wird daher als die wichtigste Zieldimension von Aus- und Weiterbildungsmassnahmen angesehen.

Auch auf politischer Ebene erfährt das Thema grosse Beachtung. Im Zusammenhang mit dem Kopenhagen-Prozess auf europäischer Ebene und der Neuausrichtung der Höheren Berufsbildung auf nationaler Ebene wird derzeit der Begriff der Kompetenz häufig verwendet. Es ist vorauszusehen, dass die «Kompetenzorientierung» zunehmend zu einem Schlüsselbegriff in der Höheren Berufsbildung wird. So werden in der Schweiz die Rahmenlehrpläne für die Höheren Fachschulen auf der Basis von formulierten Kompetenzen ausgestaltet und eine Übertragung auf die Ebene der Fach- bzw. Höheren Berufsprüfungen ist denkbar. Diese Entwicklung wird vor allem auch von der Arbeitgeberseite unterstützt, da der Arbeitsmarkt zunehmend wirkungsvolle, praxisnahe und kompetenzorientierte Bildungsangebote einfordert.

Obwohl niemand die Forderung nach der Vermittlung von Handlungskompetenz bestreitet, ist die Umsetzung auf der Ebene der Schulen bzw. der Bildungsinstitutionen keine Selbstverständlichkeit. Die Umsetzung stellt eine organisationale und methodisch-didaktische Herausforderung dar. Einerseits geht es darum, bei verschiedenen Akteuren – Schulleitern, Dozierenden, Lehrbeauftragten – tradierte Vorstellungen von Bildung zu hinterfragen, bspw. die Rolle der Lehrenden, die Art der Wissensvermittlung, das Verhältnis von Instruktion und Training. Andererseits stossen Bildungsinstitutionen schnell an ökonomische und strukturelle Grenzen, wenn sie ihre Bildungsangebote kompetenzorientiert ausrichten wollen, da die Umsetzung einer konsequenten Kompetenzorientierung alle Bereiche der Unterrichtsgestaltung umfasst: das Curriculum, die Lernziele, die Lerninhalte, die Methoden, das Transferkonzept und das Prüfungswesen. Diese umfassende, konsequente Ausrichtung auf Kompetenzorientierung mitsamt dem Einsatz moderner Lehr-/Lernarrangements ist für die Bildungsinstitution häufig nicht finanzierbar oder sie erscheint im Hinblick auf die Neugestaltung des Unterrichts als zu aufwändig.

Im übertragenen Sinne bedeutet dies, dass sich auch hier eine gewisse Handlungsunfähigkeit zeigt. Auch im Hinblick auf die Gestaltung kompetenzorientierter Bildungsangebote weiss man theoretisch, wie es gehen könnte, stösst jedoch bei der Umsetzung in die Praxis immer wieder an Grenzen. Die Akteure der Berufsbildung – meistens mit den Problemen des traditionellen Unterrichts auch aus eigener Erfahrung bestens vertraut – stehen vor der Aufgabe, die Anliegen der «Kompetenzorientierung» in ihrer Arbeit umzusetzen. Obwohl niemand die Notwendigkeit kompetenzorientierter Angebote bestreitet steht die Frage im Raum: Wie setzt man die Anliegen in der Praxis konkret um?