Interview mit Prof. Heinz Mandl
Handlungskompetenz fördern und prüfen
Können Sie sich noch an Ihren Englisch- oder Französischunterricht erinnern? Wenn ja, überschlagen Sie doch einmal, wie viele Vokabeln Sie für den Unterricht lernen mussten. Und wurden Sie einmal auf einer Reise durch Südfrankreich oder einer Fahrt nach London in ein Gespräch in der Landessprache verwickelt? Well, it’s not as simple as that!
Das Wissen, das man im Klassenzimmer erworben hat, in der realen, schnellen, komplexen Welt ausserhalb des Unterrichts auch anzuwenden, ist alles andere als einfach und selbstverständlich. Offensichtlich reicht hier der alte Satz, den bisweilen manche Lehrenden im Unterricht verkündeten: «non scholae sed vitae discimus = nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!» für ein Können in der Praxis, für die Kompetenz zum Handeln nicht aus. Es braucht mehr als den Appell an die Lernenden (und Lehrenden!), beim Lernen das Leben oder die Praxis nicht aus dem Blick zu verlieren.
Doch was genau braucht es? Wie kommt man zum Können, zu einer Kompetenz zum Handeln in realen Alltags- oder Arbeitssituationen?
Diese Fragen beschäftigen uns schon seit Langem, und wir haben diesem Thema mehrere Veröffentlichungen, Newsletter, Workshops und unzählige Stunden im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, mit Kundinnen und Kunden gewidmet. Wir freuen uns deshalb sehr, Ihnen diesmal ein Interview präsentieren zu können, das wir mit Prof. Heinz Mandl, einem ausgewiesenen Experten auf diesem Gebiet, führen konnten.
Prof. Heinz Mandl hat in seiner jahrzehntelangen, regen Forschertätigkeit den Kenntnisstand der Psychologie und der Pädagogik über die Bedingungen des Kompetenzerwerbs wesentlich erweitert. Dank seiner Forschung wissen wir heute bedeutend mehr als früher, wie Bildungsangebote gestaltet sein sollten, um den Lernenden «Wege zum Können» zu ebnen, den Aufbau von Handlungskompetenzen zu ermöglichen.
«Wie würden Sie selber Handlungskompetenz umschreiben?»
Handlungskompetenz ist die Fähigkeit des Einzelnen, in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen selbstständig und verantwortlich Probleme und Aufgaben sachgerecht zu lösen.
«Welche Empfehlungen würden Sie Lehrenden bzw. den Verantwortlichen in der höheren Berufsbildung geben, um Bildungsangebote kompetenzorientiert zu gestalten? Wie kann man Lernende in der beruflichen Weiterbildung in die Lage versetzen, in der späteren Praxis kompetent zu handeln?»
Notwendig ist die Entwicklung einer neuen Lernkultur. Richtungsweisend sind Erkenntnisse der Hirnforschung und der Psychologie des Lernens. Das Gehirn ist ein Informationen verarbeitendes System, nicht ein passiver Filter von Reizen. Es hat gestaltende Kraft und das Wissen ist kein Produkt, das von einer Person zu einer anderen weitergereicht werden kann. Wissen muss in der Auseinandersetzung mit der Umwelt aktiv erworben werden. Orientiert an konstruktivistischen Ansätzen lässt sich Lernen als aktiv konstruktiver, emotional selbst gesteuerter sozialer Prozess beschreiben. Auf der Grundlage dieser gemässigt konstruktivistischen Auffassung des Lernens sind Lernumgebungen so zu gestalten, dass sie Lernenden eine aktive, selbst gesteuerte kooperative Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand erlauben. Beispiele sind in optimaler Form etwa die Einbindung des Lernens in den Arbeitsplatz (learning on the job) oder die Gestaltung problemorientierter Lernumgebungen (learning off the job) in dem Sinne, dass authentische Situationen gegeben werden und Anwendungsperspektiven darin enthalten sind. Spezifische Inhalte werden in verschiedenen Situationen und aus mehreren Blickwinkeln betrachtet, die kooperatives Lernen und Problemlösen fördern. Sie ermöglichen auch die Entwicklung von Lern- und Praxisgemeinschaften, sog. Learning Communities. Solche Lernumgebungen verlangen aber auch nach instruktionaler Anleitung und Unterstützung. Der Mehrwert des problemorientierten Lernens besteht im Erwerb von Handlungskompetenzen. Ein Wissen, das man in Problemsituationen erworben hat, kann man eher wieder auf Problemsituationen übertragen als ein Wissen, das systematisch dargeboten erworben wurde.
«Welchen Stellenwert haben neue Technologien bei der Gestaltung von kompetenzorientierten Bildungsangeboten?»
Stärker als bisher müssten die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien einbezogen werden. Sie bieten Realisierungsmöglichkeiten für problemorientierte Lernumgebungen. Vor allem Simulationsprogramme, Planspiele und fallbasierte Lernprogramme sind in hohem Masse dazu geeignet, anwendungsbezogen zu lernen. Sie bieten den Lernenden komplexe Problemstellungen zur Bearbeitung. In fallbasierten Lernumgebungen können Lernende Probleme durch Üben und Anwenden von bereits erworbenem Wissen oder auch durch Explorieren und Austesten von eigenen Hypothesen in einem bedeutungshaltigen Kontext lösen und dabei Handlungskompetenzen erwerben. Zunehmend gewinnt Blended Learning an Bedeutung, eine Mischung aus Präsenz- und E-Learning-Phasen.
«Welche Empfehlungen würden Sie zur Gestaltung kompetenzorientierter Prüfungen formulieren?»
Das Problem kompetenzorientierter Prüfungen besteht darin, dass Kompetenzen nur über Verhalten und Leistungen erschlossen werden können. Als Erhebungsmethoden stehen zum einen Verfahren zur Kompetenz-Beobachtung, zum anderen Verfahren zur Kompetenz-Messung zur Verfügung. Bezogen auf Kompetenz-Beobachtung lassen sich zwei Vorgehensweisen unterscheiden: Die objektive Kompetenz-Beobachtung von aussen (z.B. Beobachtung von Arbeitstätigkeiten) und die subjektive Kompetenz-Einschätzung von sozial-persönlichen Kompetenzen. Kompetenz-Messung kann mit Test-Verfahren (z. B. Mathematik-Test) erfolgen, aber auch mit qualitativen Methoden der Sozialwissenschaften (z.B. Analyse von Texten). Das Problem der Erfassung von Kompetenz besteht in der Operationalisierung der den Leistungen zugrunde liegenden Kompetenzen sowie der Bestimmung adäquater Kompetenzniveaus.
«Wo sehen Sie Ansatzpunkte für die Lehrerweiterbildung?»
Lehrerweiterbildung dient der Erhaltung und Erweiterung der beruflichen Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern. Sie trägt dazu bei, dass Lehrpersonen den jeweils aktuellen Anforderungen ihres Lehramts entsprechen und so den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule erfüllen können. Berufsfähigkeit ist auf Dauer nur zu gewährleisten, wenn die Lehrperson sich fortlaufend qualifiziert. Erfordernisse für die Qualifizierung ergeben sich auf inhaltlicher, didaktischer, organisationaler Ebene. Die Forderung nach Weiterbildung gewinnt vor dem Hintergrund der zunehmend selbstständigen und eigenverantwortlichen Schulen an Bedeutung. Schulen sind dann für die Entwicklung und Sicherung ihrer Qualität selbst zuständig und zur Rechenschaftslegung verpflichtet. Bezogen auf die Qualität er Massnahmen muss die Ebene des Handelns im Klassenzimmer noch stärker gewichtet werden. Lehrerinnen und Lehrer lernen neue Praxisformen kennen,es fehlt aber an der Einübung und praktischen Umsetzung. Lehrerfort- und -weiterbildungsinstitutionen sollen zu professionellen Unterstützungseinrichtungen für schulische Innovationen werden.
«Welches ist aus Ihrer Sicht die grösste Herausforderung, die ‹Kluft zwischen Wissen und Handeln› zu überbrücken?»
Die meisten Menschen wissen um die Bedrohung unserer Umwelt durch Schadstoffe, Müllberge und Klimaveränderung, viele sehen sogar ihre Lebensqualität durch Umweltbelastungen beeinträchtigt. Aber nur wenige gehen auch den Schritt zum ökologisch relevanten Handeln. Die meisten Menschen wissen um die Risiken des Rauchens für die Gesundheit. Aber nur wenige Raucher schaffen den Schritt zum gesundheitsrelevanten Handeln. Die Beispiele liessen sich fortsetzen.
«Was hindert den Menschen daran, sein Wissen in Handeln umzusetzen?»
Das Problem besteht darin, dass Handeln keineswegs auf Wissen beruht. Für die Umsetzung von Wissen in Handeln ist bekannt, dass Ziele, Absichten, Motive, Interessen und Erwartungen menschlichen Handlungen zugrunde liegen. Dazu kommt, dass Situationen für das Erfassen und Verstehen des Zusammenhangs zwischen Wissen und Handeln eine oft unterschätzte Rolle spielen: Handlungen finden stets in einer aktuellen Umgebung statt, eingebettet in einen bestimmten soziokulturellen Rahmen; ob in informeller Atmosphäre, unter sozialem Druck oder in Extremsituation gehandelt wird, macht durchaus einen Unterschied. Auch für die Bedeutung von Wissen ist es nicht gleichgültig, ob es in wissenschaftlichen Kreisen, in der Familie oder am Arbeitsplatz entsteht und angewendet wird. Eine Sichtweise, die allein das Individuum im Blick hat, genügt also nicht, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir tun, zu verstehen oder gar zu verändern. Soziale Gruppen, in denen wir leben, und die gesellschaftlichen Bedingungen spielen neben Wissen, Gefühlen, Motiven und Willensphänomenen eine wesentliche Rolle für unser Handeln und umgekehrt.
Der eigentliche Zweck des Lernens ist nicht das Wissen, sondern das Handeln.
Herbert Spencer (1820-1903), engl. Philosoph u. Sozialwissenschaftler