Alter Wein in smarten Schläuchen?

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Die digitale Revolution des Lernens – alter Wein in smarten Schläuchen?

Im Zukunftsletter vom Januar 2012 wird unter dem Titel «Die digitale Revolution des Bildungsmarktes beginnt jetzt», ein rasanter Umkehrtrend in der Bildung beschrieben. Dabei wird vor allem auf die ökonomischen Vorteile von E-Learning-Anwendungen im Rahmen von Lernprozessen hingewiesen und eine Konkurrenzierung der Bildungsinstitutionen durch Google, Apple und Facebook vorhergesagt. Im Folgenden werden die gemachten Aussagen etwas näher durchleuchtet:

Aussage 1
«Die horrend teure akademische Ausbildung gilt als nicht mehr zeitgemäss, weil sie mit pädagogischen Mitteln aus dem 19. Jahrhundert arbeitet. Immer mehr Professoren streamen ihre Vorlesungen.»
Die Vorlesung ist nach wie vor eine der zentralen Methoden der universitären Ausbildung. Deren Wirkung auf den Lernfortschritt ist, ohne die Einbettung in Vertiefungen, Übungen und Anwendungen nachweislich gering. Dasselbe gilt auch für «gestreamte» Vorlesungen. Der Lerneffekt wird nicht dadurch erhöht, dass die Studierenden nun orts- und zeitunabhängig eine Vorlesung hören können. Zeitgemässe Ausbildungen zeigen sich unserer Meinung nach in einer wirksamen Ausbildung, die zu einer Kompetenzerweiterung führt – müsste deshalb nicht das didaktische Setting grundsätzlich neu überlegt werden? Die ökonomischen Vorteile bleiben jedoch unbestritten, die Zahl der Student/innen im «Virtuellen Hörsaal» ist nach oben offen und es wird kein Gerangel um Sitzplätze geben.

Aussage 2
«Neue Geräte wie das iPad und das Smartphone werden schon heute in Indien und China für Multiple-Choice-Tests genutzt. Durch die Digitalisierung des Lernens wird raum- und zeitsouveränes Lernen möglich.»
E-Learning-Anwendungen zeichnen sich oftmals durch eine einfache, lineare Abfolge von Lernsequenzen aus – so zum Beispiel durch die Bearbeitung eines Web Based Trainings (WBT) und einer Überprüfung mittels Multiple Choice Tests. Diese Lernsequenzen werden ausgelagert und können von überall her erledigt werden. Diese Auslagerung bringt Vorteile mit sich, weist jedoch im Rahmen der Kompetenzentwicklung klare Grenzen auf. Die ökonomischen Vorteile führen somit oftmals zu einer Simplifizierung von Lernprozessen, welche die Wirkung negativ beeinflussen. Somit sagen wir: Der Einsatz von zeitgemässer Technologie sollte wohlüberlegt, dosiert und vor allem mit einem Blick auf die Zielsetzungen erfolgen.  

Aussage 3
«Durch das soziale Internet wird Lernen immer mehr zum kooperativen Wissenserwerb ohne ausgeprägte Lehrerautorität.»
Voneinander lernen sei dies in sogenannten Peer-Gruppen, im Fachgespräch mit einem Experten, im Rahmen eines Mentorings oder über Foren und Blogs ist eine wichtige Ebene des Lernens. Je freier und zufälliger dieser Austausch oder das Abrufen von Wissensbausteine im Netz ist, desto schwieriger ist es  jedoch für die Lernenden den Überblick zu behalten. Die Gefahr besteht darin, dass man sich in der Fülle der Informationen und gesteuerten Online-Diskussion verliert, dabei einzelne Facetten zufällig aufnimmt, aber die eigentlichen Zielsetzungen des persönlichen Lernprozesses aus den Augen verliert. Oder haben Sie sich noch nie im googlen verloren? Was für Spezialist/innen allenfalls eine Fundgrube ist, kann für Einsteiger/innen zu Irrwegen werden.

Aussage 4
«In den Sektoren Wissen und Bildung beginnt jetzt das, was Ende der 1990er Jahre die Musikindustrie komplett umgekrempelt hat. Oxford und Harvard haben ab jetzt neue Konkurrenten: Google, Apple und Facebook.»
Der Einsatz neuer Medien, insbesondere von sozialen Medien zur Gestaltung von Lernprozessen bringt bei einem gut durchdachten Mix unbestritten einen grossen Mehrwert und ist zukünftig nicht mehr weg zu denken. Aber ohne didaktisches Design, das heisst, ohne Strukturierung und Abstimmung der eingesetzten Lerninhalte und Lernformen, können die angestrebten Kompetenzen nicht erreicht werden – digitale Revolution hin oder her. Die entscheidende Frage jedoch bleibt: Wer gewinnt das Rennen um moderne Lernarchitekturen?

Quelle und Literaturhinweis: Zukunftsletter. Strategisches Wissen für Entscheider in Management und Marketing, Januar 2012, S. 6